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Wach- & Schließ­ge­sell­schaft Deutschland

31. Januar 2008

Auf einer Vortragsveranstaltung der Humanistischen Union referierte die Kriminologin Daniela Klimke Überlegungen zum Thema „Wach- & Schließgesellschaft Deutschland“ sowie Thesen zur „Integration und Desintegration in der neoliberalen Marktgesellschaft“

Wach- & Schließgesellschaft Deutschland

Der Wahlkampf in Hessen fokussierte einmal mehr das Thema Sicherheit, weil objektive Probleme (z.B. im Bereich der Jugendkriminalität) manchen Politikern geradezu als prädestiniert dafür erscheinen, in Stimmungen und auf dieser Basis in populistische Vorschläge umgesetzt zu werden. In sattsam bekannter Manier rufen diese Politiker nach schärferen Gesetzen, als liege darin das Allheilmittel zur Lösung der Kriminalitätsprobleme. Eine nüchterne Sachdebatte ist kaum gefragt.

Frau Dr. Daniela Klimke – Geschäftsführerin des Instituts für Sicherheits- und Präventionsforschung in Hamburg (ISIP) – zog anfangs einen grundsätzlichen Rahmen. Eine fortschreitende Neoliberalisierung der Verhältnisse werde inzwischen offen beklagt. Es würden sich die Stimmen mehren, die von der Politik wieder eine stärkere „Orientierung an Maßstäben sozialer Gerechtigkeit fordern. Zugleich aber würden drakonische Strafen für Verbrechen gefordert. Einschränkungen der informationellen Selbstbestimmung mit Blick auf die Terrorgefahren werden hingenommen und vor dem Hintergrund geschöpfter Sozialkassen Leistungskürzungen für richtig gehalten. Wie ist dieses Spannungsverhältnis zu verstehen und wie wird der Umbau zur Marktgesellschaft gesellschaftlich durchgesetzt?

Heutzutage scheinen wir geradezu umstellt von Risiken, die akut das Leben bedrohen. Die Verletzbarkeit der Subjekte gerät zum zentralen politischen Aktionsfeld. Gerade die vorgeblich bedrohte Innere Sicherheit bietet sich zur kollektiven Mobilisierung an, und zwar in Form der Beteiligung an der Sicherheitsherstellung bis hin zu moralischer Entrüstung, um sich gemeinschaftlich hinter der Regierung gegen die „Feinde der Gesellschaft“ in Stellung zu bringen.

Was lernen wir aus Hessen (und den Bundes­tags­wahl­kämpfen 1998, 2002)?

Mit stramm neoliberaler Politik, radikalen Freund-Feind-Parolen sind keine Mehrheiten zu gewinnen. Die Mehrheit der Bevölkerung favorisiert sozialstaatliche Konsensdemokratie. Diese Haltungen aber sollen im Rahmen der Neoliberalisierung von beiden großen Volksparteien aufgebrochen werden. Welche Hintergründe haben die Neoliberalisierung und die damit einhergehende fast zwingende Instrumentalisierung des Feldes der Inneren Sicherheit?

Rückblick: Bis ca. 1980 war die Führung von Menschen zwar aufwendig, aber recht leicht zu bewerkstelligen. Die so genannte Disziplinargesellschaft beruhte auch darauf, dass all ihre Mitglieder als Arbeitskräfte gebraucht wurden und dass es ökonomisch aufwärts ging. Ziel war es also, alle Menschen zu integrieren, ob am unteren Rand, ob abweichend, auch kriminell – es ging um die Erziehung der Menschen zum rechtschaffenen Leben. Uns sind die Disziplinierungsinstitutionen wohlbekannt, auch heute noch: Familie, Schule, Beruf bis hin zum Gefängnis – nur funktionieren sie heutzutage anders als ehemals. All diese Institutionen hatten das vorrangige Ziel ihre Zöglinge zur Anpassung an klare Normen und Werte zu erziehen. Heutzutage sprechen wir jedoch von einer „Individualisierung“ der Gesellschaft.

Gesellschaftliche Wandlungsprozesse entstehen jedoch nie ohne Grund oder aus Lust und Laune. Jeder soziale Wandel beruht auf objektiv sich verändernden Gegebenheiten. Was ist also unterdessen geschehen, dass Normen und Werte flexibel sind und keine starren Vorgaben mehr bilden, an denen sich die Subjekte nur anzupassen brauchen? Das Stichwort habe ich eben bereits genannt: „Flexibilität“. Flexibel muss heute alles und jeder sein, will er den neuen globalisierten Bedingungen entsprechen. Dieser Begriff umschreibt sowohl Strukturen, ob Unternehmens- oder Verwaltungsstrukturen, die möglichst schlank sein sollen, um kurzfristig flexibel reagieren zu können. Er umschreibt aber ebenso die aktuelle Anforderung an die Menschen.

„Flexi­bi­lität“ ist gefordert

Die Kultur des neuen Kapitalismus bringe, so zitiert die Referentin, einen anderen Menschentypus hervor. Vorbei sei die Zeit, als alles ziemlich berechenbar erschien, die berufliche Karriere, die Ehe usw., solange sich die Menschen nur an die vorgegebene Normordnung hielten und nicht deutlich ausscherten: Stattdessen ist heute das Leben brüchig geworden Soziologen sprechen von sog. „Patchwork-Biografien“, in denen sich viele kleine Lebensabschnitte einfügen, ohne dass die einzelnen Lebensleistungen aufeinander aufbauen. Zeiten der Beschäftigung folgen oftmals Phasen der Arbeitslosigkeit; die Bildungszertifikate bestimmen nicht die Zukunft, außer bei denen, die sie nicht besitzen; solide Qualifikationsstufen gibt es nicht mehr, stattdessen Quereinsteiger, Aussteiger usw.

Es ist nicht mehr klar, was und wie etwas zu tun ist, um zum Erfolg oder auch zum persönlichen Glück zu gelangen. Die Menschen leben in großer Unsicherheit, wenn sie nicht auf klare Erfolgsrezepte, letztlich auf klar definierte und gültige Normen zurückgreifen können, wie ihr Leben zu führen ist. Die grundlegende Gerechtigkeitsidee des Wohlfahrtsstaates, der bis in die 1980er Jahre reichte, ist brüchig geworden: Es ist die Vorstellung, dass für Leistung die entsprechende Belohnung zu erwarten ist. Heutzutage wird Leistung zunehmend durch Erfolg ersetzt. War Leistung ein Resultat individueller Anstrengung auf vorgegebenen Wegen, so ist Erfolg zufällig, nicht berechenbar.

Die globalisierten Finanzmärkte lassen Regierungen heutzutage nicht viel Spielraum zum Regieren. Die sog. „Politikverdrossenheit“ spiegelt nichts anderes wider als den verbreiteten Eindruck, dass dort oben nicht viel passiert, und erst recht nicht das was sich das Volk von der Politik wünscht. Während wir einem neoliberalen Umbau der sozialökonomischen Verhältnisse ausgesetzt sind, in der politisch-medial die „soziale Hängematte“ und die „Vollkaskogesellschaft“ beklagt werden, hängt die Bevölkerung an alten Vorstellungen von gesellschaftlicher Integration und dem Leistungsgedanken. Diese grundlegenden, in besseren Zeiten kultivierten Gerechtigkeitsvorstellungen lassen sich nicht leicht aufbrechen und auf den Kurs der Marktgesellschaft bringen, in der nur der Cleverste durchkommt, während die Übrigen auf der Strecke bleiben.

Was lernen wir aus Hessen? Eben genau das: Die Bevölkerung stemmt sich gegen den neoliberalen Wind der einem sowohl von SPD als auch CDU um die Ohren bläst. Gefordert wird Leistungsgerechtigkeit und wir bekommen stattdessen in Wahlkämpfen gerne eine gefährdete Innere Sicherheit präsentiert. Was macht das Thema der Kriminalitätsbearbeitung so lohnenswert für die Politik?

1. Innere Sicherheit ist eines der letzten natio­nal­staat­lich regulier­baren Felder

Während EU-weit Desinflationspolitik vorgegeben ist, wodurch Investitionen in den sozialen Sektor ausgebremst werden, während überdies die Wirtschaft dereguliert wird, auf dass sie wachse – und sei es auch auf Kosten der Beschäftigten und sei es auch in den Niedriglohnländern – während also den heutigen westlichen Regierungen die Hände gebunden sind, unter marktgesellschaftlichen Bedingungen zu regieren, verbleibt die Innere Sicherheit als sichere Bastion auf der nationalstaatlich „durchregiert“ werden kann, wie es Bundeskanzlerin Merkel einmal formulierte. Hier kann Symbolpolitik betrieben werden, die anhand von Einzelfällen drakonische Gesetzesverschärfungen durchsetzt, u. a. sichtbar im Bereich des Sexualstrafrechts. Hier darf und soll man sich als Opfer fühlen, und der Staat umsorgt seine Bevölkerung kostensparend mit Gesetzesbeschlüssen. Das Opfer ist zum repräsentativen Individuum geworden. Mit dem Opfer schwerer Kriminalität identifiziert man sich, und dies umso mehr, je mehr man sich in seinen eigentlichen Nöten alleingelassen sieht.

2. Krimi­na­lität eignet sich hervor­ra­gend für knackige Parolen

Man denke etwa an „Hamburg – die Verbrecherhauptstadt“ oder auch an die Worte unseres ehemaligen Kanzlers Schröder „Wegschließen – und zwar für immer“, was nicht ohne Wirkung bleibt. Diese Parolen verbleiben überwiegend im Rahmen symbolischer Politik, hinter der weniger konkrete Maßnahmen stehen, die die Situation tatsächlich verbessern würden, als vielmehr die Erwartung seitens der Politik, hiermit Eindruck auf das Publikum, nämlich das Wahlvolk zu machen. Moralfragen, zu der Kriminalität und ihre Bestrafung gemacht werden, eignen sich besonders gut, um Einigkeit herzustellen und zu verdichten Wer wäre nicht etwa gegen das Böse?! Wagt es jemand gegen eine derart populistische Kriminalpolitik Argumente ins Spiel zu bringen, und diese Stimmen werden leiser, so wird derjenige mit großer Sicherheit auf die Seite der Amoral, der gefährlichen Verharmloser gekippt. Innere Sicherheit ist dann ein Thema, dessen Bearbeitung nur noch in eine Richtung weist: Strafen rauf!

3. In der Krimi­na­li­täts­be­a­r­bei­tung lassen sich die neoli­be­ra­li­sierte Regie­rungs­me­cha­nismen durch­spielen

Stößt die Politik ansonsten auf den Widerstand einer Bevölkerung, die noch die alten Zeiten der Gerechtigkeit, des Gemeinwohls usw. hochhalten, ist ein teilweiser Umbau der Verhältnisse in Richtung Marktgesellschaft anhand des Themas Innere Sicherheit zu bewerkstelligen. Nichts kann die Funktionsmechanismen der heutigen Ökonomie besser verdeutlichen als die strafende Reaktion auf Kriminalität: „Wer nicht hören will, muss fühlen.“

Wer also nicht bereit oder in der Lage ist, unter den gegebenen Verhältnissen zu überleben, der hat nichts oder eben Hartz IV zu erwarten. Es ist in das Geschick des Einzelnen gestellt, sich in die Gegebenheiten zu fügen oder aber mit Sanktionen zu rechnen. Eine Änderung oder gar ein Widerstand gegen die Wirtschaftsverhältnisse ist nahezu verunmöglicht – sowohl individuell als auch auf der Ebene der Politik wird die durchgehende Ökonomisierung sämtlichen sozialen Handelns geradezu als Schicksal hingenommen. Gerade die hilflosen Maßnahmen des Mindestlohns oder der Konsumverweigerung für Nokia-Geräte verdeutlichen das geringe Widerstandspotential dessen man sich bedienen mag, um der Sphäre der Ökonomie etwas entgegen zu setzen.

Und nicht nur, dass es kaum Möglichkeiten des Widerstands gibt. Überdies trägt auch noch jeder persönliche Verantwortung an seinem Lebensgeschick. Soziale Bedingungen von misslungenen Lebensentwürfen scheiden inzwischen ziemlich kategorisch als Erklärung aus. Vorbei die Zeiten, als sich aus diesen Misserfolgen zwangsweise die Frage ergab, was auch der Staat versäumt hat, dass es dazu kam. Heutzutage lebt man ziemlich frei von sozialen Bezügen und gibt stattdessen dem Verlierer selbst die Schuld an seiner misslichen Lage. Er selbst hat es offenbar nicht anders gewollt, hat die Chancen einfach nicht genutzt, die sich auch ihm darboten.

Beide Unterwerfungsmechanismen der Neoliberalisierung, die wir so willfährig hinnehmen – die Unabänderlichkeit sozialer Bedingungen von Abweichung bzw. Misserfolg und damit deren Ignoranz als auch die Festlegung auf die persönliche Schuld – finden wir exemplarisch im Bereich der Kriminalitätsbearbeitung. Die Ursachensuche in den sozial-ökonomischen Bedingungen von Kriminalität wurde aufgegeben. Statt auf diese sozialen Bedingungen von Abweichung – die kostenaufwendige Maßnahmen des Disziplinarstaates nach sich ziehen müssten -, fokussiert sich die Kriminalpolitik allein auf die Seite der Reaktion durch Strafe.

Dies wird mit einem ökonomischen Denken legitimiert, das jedem Handelnden unterstellt, nach Kosten-Nutzen-Kalkülen zu entscheiden. Die negativen Sanktionen müssen also nur hoch gesetzt werden, um Druck zum erwünschten Verhalten zu erzeugen – so die vorherrschende Meinung. Damit verschiebt sich jedoch der Schwerpunkt des Regierens von der Erziehung zu normgerechtem Verhalten – wie ehemals in der so genannten Disziplinargesellschaft, in der es um die Herstellung innerer Konformität ging -, hin zur bloßen äußeren Kontrolle von Verhalten, um abzuschrecken und zu sanktionieren. Es ist eine Entwicklung hin zur Kontrollgesellschaft.

4. Auch Krimi­na­li­täts­opfer handeln in „Selbst­füh­rung“

Nicht nur der Rechtsbrecher wird als ein Individuum gesehen, das nach Kosten-Nutzen-Erwägungen, eben ökonomisch handelt, sondern auch ein großer Teil der Kriminalitätsopfer. Zumindest für den Bereich der Alltagskriminalität ist auch jeder selbst verantwortlich, sich entsprechend zu schützen. Die Polizei kann nicht überall sein, stattdessen zieht sie sich auf ihre so genannten Kernaufgaben zurück.

Daneben müssen private Akteure her: private Sicherheitsdienste z.B., aber auch der Bürger. Nicht der Staat regelt die Angelegenheiten für die Bevölkerung. Die Menschen selbst müssen eben auch aufpassen, dass ihnen nichts passiert. In dem Maße, wie Kriminalität als Resultat von Kosten-Nutzen-Abwägungen konzeptualisiert wird, kann auch der Bürger in die Pflicht genommen werden sich entsprechend zu verhalten.
Auch die Mahnung zur Zivilcourage verdeutlicht nichts anderes, als dass die Bürger gefälligst auf sich selbst und auf seine Mitmenschen aufpassen sollen. Die „Aktion wachsamer Nachbar‘, die die Hamburgische Polizei auf Aufkleber drucken ließ, ist so eine Maßnahme, deren Ursprung in den USA liegt.

Mit Feinderzählungen lassen sich diese ansonsten stabilen Sicherheitsdispositionen für neue kriminalpolitische Strategien öffnen. Einfallstore für eine neoliberalisierte Risikopolitik können beispielsweise mit den Figuren des Kinderschänders und des fremden Terroristen hergestellt werden. Sie haben den strategischen Vorteil, eine große Opferidentifikation hervorzurufen, mit der wohlfahrtsstaatliche Vorstellungen einer sozialen Bedingtheit und resozialisierenden Behandlung von Kriminalität leicht aufgebrochen werden zugunsten eines imaginierten sozialen Reinheitszustandes über rückhaltlosen Ausschluss gesellschaftlicher Feinde. Damit entfalten diese Figuren die Überzeugungskraft, mit der ein Sicherheitsstrafrecht installiert werden kann.
Einstweilen aber könne Entwarnung gegeben werden: Kriminalität gehöre zum politischen und medialen Dauerbrenner, und auch die Bevölkerung errege sich moralisch über diese Feindfiguren, aber ein individuelles, lebensweltliches Problem ‚Innere Sicherheit‘ gäbe es bislang nicht.

C.F. (mit Auszügen aus dem Manuskript der Referentin)

Kategorie: Hamburg: Veranstaltungsberichte

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