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Justiz­vollzug als Straf­an­stalt

21. November 2007

Bericht über eine Diskussionsveranstaltung zum Hamburger Modell des „Sicherungsvollzugs“

(hpd / HU) Längst nicht alle, die im Gefängnis sitzen, sind von Grund auf schlechte Menschen – darin waren sich Dietrich Mett und seine rund 50 Zuhörer einig. Als ehemaliger Präsident des Oberlandesgerichts und jetziger Vorsitzender des Forums Hamburger Straffälligenhilfe e.V. berichtete er am Abend des 21. Novembers im Kulturhaus 73 in der Sternschanze auf einer Veranstaltung der HU Hamburg in Form eines Vortrags mit dem Titel „Justizvollzug als Strafanstalt?“. Schwerpunktmäßig beschäftige er sich vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit  den Missstände in Hamburgs Strafvollzug, wie sie durch die Senatoren Kusch und Schill ins Werk gesetzt worden sind und in dem Entwurf des neuen hamburgischen Strafvollzugsgesetzes ihren Niederschlag gefunden haben.

Dietrich Mett ging von folgender Ausgangslage aus. (Fast) jeder Bürger habe selber schon einmal eine strafbare Handlung begangen. Nur rund ein Sechstel aller Delikte werden aufgedeckt und verfolgt, wie der Dunkelfeldforschung zu entnehmen sei. „Es leben unter uns viele Menschen, die Straftaten begangen haben, uns jedoch nicht im geringsten beunruhigen“, argumentierte er. In gewissen Gesellschaftskreisen gelten Steuerhinterziehung, Leistungserschleichung und Versicherungsbetrug gar als clever und besonders geschäftstüchtig.

Wird ein Täter von der Justiz jedoch als solcher gebrandmarkt, gerät eine Lawine ins Rollen: Die bis dahin freundlichen Nachbarn wenden sich auf einmal ab, langjährige Arbeitsverhältnisse und Kredite werden gekündigt, ja sogar Eltern und Geschwister kehren dem Straftäter oftmals den Rücken zu. Dabei ist es nicht die Tat selber, die zu diesem Zerbrechen des sozialen Gefüges für den Betroffenen führt, sondern die Verfolgung jener Tat durch den Staat. Das gilt ganz besonders für Jugendliche und Jungerwachsene, die in der Phase des Suchens und Erprobens ihren gesellschaftlichen Standort erst noch finden müssen. Opfer bleiben sie indessen, wenn sie nach Verbüßung ihrer Strafe weiterhin sozial geächtet bleiben und keine Chance erhalten, sich wieder einzugliedern.

Guantanamo bald auch in Hamburg?

Wird Guantanamo bald auch in Hamburg einkehren? So könnten wir fragen, wenn wir die in der Amtszeit von Ex-Justizsenator Dr. Roger Kusch (2001-2006) vollzogene grundlegende Umstrukturierung des Hamburger Strafvollzuges unter die Lupe nehmen. Die Welt ordnet sich neu im Zeichen der ‚Globalisierung‘, welche vielfach dahin missverstanden wird, dass nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Zusammenhänge wie Aspekte der Kriminalpolitik global gelöst werden könnten. Dabei werden jedoch die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse zur Planung und Durchführung eines dem deutschen Gesellschafts- und Rechtssystem angemessenen Strafvollzuges missachtet. Die Reintegration eines Straftäters erfordert nämlich ein lokales, auf seine individuellen Fähigkeiten und sein soziales Umfeld bezogenes differenziertes Handeln, so der Referent.

Der Gesetzgeber hat den Gerichten ein breites Spektrum an Reaktionsmöglichkeiten auf eine rechtswidrige und schuldhafte Tat überlassen. Es gibt einen Katalog von Reaktionsfolgen: Geldstrafen, Freiheitsstrafen, Maßnahmen der Sicherung und Besserung usw., wobei der Gesetzgeber nur in Ausnahmen eine einzige unumstößliche Maßnahme – z. B. bei Mord die lebenslange Freiheitsstrafe – vorsieht. Für einen Diebstahl dagegen sieht § 242 StGB den Strafrahmen von 5 Tagesätzen Geldstrafe bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe vor. Der Gesetzgeber hat die schädlichen Folgen der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe sehr wohl bedacht. Die zentrale Bestimmung der Strafzumessung ist § 46 StGB. Absatz I dieses Gesetzes enthält einen wichtigen Satz, der lautet: „Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen.“ Es sind mithin nach dieser Vorschrift schon im gerichtlichen Erkenntnisverfahren die Reintegration bzw. Resozialisierung des Täters zu bedenken.

Leider sei es nicht zu leugnen, dass viele Straftäter nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe wieder rückfällig werden. Bei Jugendlichen und Jungerwachsenen rechne man gar mit einer Rückfallquote von 80 %. Dietrich Mett ermutigte dazu, genauer zu erforschen, welche Maßnahmen und Behandlungsmethoden erreicht haben, die übrigen 20 % der Delinquenten auf den gesetzmäßigen Weg zu führen. Es gebe im Strafvollzug keine Behandlungskonzepte mit Erfolgsgarantie, bedauerte er. Wenig bekannt sind dabei umfangreiche Studien aus den 1980er-Jahren in senegalesischen Gefängnissen, in denen viele tausend Inhaftierte eine aus dem Himalaya stammende Meditationstechnik erlernen konnten, welche durch die Erfahrung von innerer Freiheit und Glückseligkeit systematisch zwischenmenschliche Spannungen abbaut, wodurch die Langzeit-Rückfallquote von 80 % auf 20 % reduziert werden konnte. Die wissenschaftlich dokumentierten Ergebnisse wurden in dem Buch „Freedom Behind Bars“ publiziert. [Anm. d. Verf.]

Unwis­sen­schaft­liche „Siche­rungs­the­orie“

Stattdessen wird von der Politik seit ca. 10 Jahren eine unwissenschaftliche „Sicherungstheorie“ entwickelt, der sich auch Herr Kusch angeschlossen hat. Nach diesem Vollzugsdenken lohnt es sich nicht, mit bestimmten Gruppen von Tätern zwecks Resozialisierung bestimme Risiken (z.B. Freigang) einzugehen. Die Haftzeit soll vielmehr dazu genutzt werden, die Öffentlichkeit vor diesen Tätern zu sichern. Diese härtere Gangart lässt sich politisch leicht verkaufen mit der Begründung, andere Täter dadurch abzuschrecken, was laut Dietrich Mett allerdings grundsätzlich falsch ist. Da dieser Strafvollzug erwartungsgemäß weder einen Resozialisierungserfolg noch eine generalpräventive Abschreckung bewirkt, wird als notwendige Konsequenz auch noch die Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Verhängung der Sicherungsverwahrung durchgesetzt und nun sogar für Jugendliche diskutiert.

Eine gerichtliche Entscheidung sei von der sie vollstreckenden Exekutive zu respektieren und dürfe in ihrem Sinngehalt nicht verändert werden, betonte der ehemalige Präsident des Oberlandesgerichtes in seinem Vortrag. Obwohl diese Aussage an sich selbstverständlich ist, h´¤lt sich die derzeitige Hamburger Justizpolitik nicht angemessen daran. Von den ca. 2.300 Gefangenen in Hamburger Vollzugsanstalten wurden um die 120 von den Gerichten zu Geldstrafen verurteilt. Soweit sie von ihnen nicht bezahlt wurden oder, wie das Gesetz es ausdrückt, uneinbringlich waren, haben sie eine Ersatzfreiheitsstrafe zu verbüßen. Viele von ihnen waren als Freigänger bei Firmen außerhalb der Anstalten tätig und kehrten nach der Arbeit in die Anstalten zurück. Die Anstaltsgelände waren nicht besonders gegen Ausbrüche gesichert; dennoch gab es nur ganz selten Entweichungen. Die Schuld dieser Täter wurde von den Gerichten so bewertet, dass ihnen ein Eingriff in die Freiheit erspart und sie den schädlichen Folgen eines Freiheitsentzuges nicht ausgesetzt werden sollten. Ein Vollzug zusammen mit Delinquenten schwererer Delikte erschien als völlig unangemessen. Die offenen Vollzugsanstalten wurden von den Senatoren Kusch/ Lüdemann jedoch weitgehend abgeschafft, so dass die Ersatzfreiheitsstrafgefangenen kaum eine individuelle Behandlung mehr erfahren und zusammen mit Schwerkriminellen in die hoch gesicherte Vollzugsanstalt Billwerder eingewiesen werden. Im gleichen Atemzug wurde die ursprünglich für maximal 300 Gefangene im offenen Vollzug konzipierte Anstalt Billwerder zu einer Hochsicherheitsanstalt für 850 Gefangene gemacht. Expertenkommissionsberichte, nach denen Strafanstalten nicht mehr als 250 bis 300 Gefangene haben sollten, um maximale Resozialisierungsergebnisse zu erreichen, wurden schlicht nicht zur Kenntnis genommen. Außerdem wurde ein Teil der demokratischen Kontrolle in Form von Anstaltsbeiräten abgeschafft. Diese Vorstöße gegen Art. 19 Abs. IV und Art. 20 Abs. III GG seien skandalös hätten  bisher jedoch zu keinerlei Konsequenzen geführt.

Statt Resozi­a­li­sie­rung ein repressiver Verwahr­vollzug

Konzeptionell hat das Gespann Kusch/ Lüdemann den Vollzug nach zwei Gesichtspunkten organisiert und mit Disziplinarmaßnahmen gegen Widerstände von Mitarbeitern durchgesetzt:

  1. Vorrang der Sicherheit der Öffentlichkeit vor der Resozialisierung der Gefangenen.
  2. Undifferenzierte und pauschale Unterordnung aller Gefangenen unter einen als Chancenvollzug bezeichneten repressiven Verwahrvollzug.

Diese grundlegenden konzeptionellen Änderungen haben Kusch/Lüdemann trotz unveränderter Gesetzeslage durchgedrückt. Senator Lüdemann setzt diese Vollzugspraxis unverändert fort, obgleich § 2 StVollzG noch immer gilt und erst ein neues Hamburger Strafvollzugsgesetz beschlossen werden soll.

Die Auswirkungen dieses Konzepts stellte Herr Mett in seinem Vortrag an der Alltagswirklichkeit der Anstalt Billwerder dar: Von den 744 Gefangenen waren rund 62 % von den Gerichten wegen Vergehen und keineswegs wegen Verbrechen zu Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr verurteilt worden. Von ihnen gehe keine besondere Gefahr für die Öffentlichkeit aus, betonte Herr Mett. Dazu gehören auch die 120 Gefangenen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe abzusitzen haben. Sie werden dennoch einheitlich nach einem Schema behandelt. Die Anstalt differenziert auch nicht zwischen Gefangenen, die sich zum Strafantritt selbst in der Anstalt gemeldet haben und denjenigen, die aus der Untersuchungshaft zugeführt wurden. Von den mehr als 240.000 Hafttagen, die im Jahr 2006 in der Anstalt vollstreckt wurden, waren nur 0.04 % mit dem Ereignis einer Vollzugslockerung verbunden. Freigang aus der Anstalt gab es überhaupt nicht. Der Kontakt zwischen Gefangenen der unterschiedlichen Häuser der Anstalt ist untersagt, die Bildung von Kommunikations- und Vertrauensstrukturen zu Beamten und anderen Gefangenen wird systematisch unterbunden. Täglich um 18.30 Uhr werden die Gefangenen in ihre Zellen eingesperrt und müssen sehen, wie sie die fast 12 Stunden bis zum nächsten Morgen totschlagen. Auch wird die Zeit für therapeutische Gruppenarbeit und Gespräche dadurch wesentlich verkürzt und die sinnvolle Arbeit der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Straffälligenhilfe erheblich erschwert.

Vorstel­lungs­ge­spräch mit Fesseln

Diese unverantwortliche, die Eingliederung eines Straftäters stark behindernde Praxis wurde 2007 fortgesetzt. In einem Fall wurde einem Straftäter ein Urlaubstag gewährt, um sich bei einem zukünftigen Arbeitgeber vorstellen zu können. Er wurde jedoch gezwungen, zu dem Vorstellungsgespräch Fesseln zu tragen. Die dem  Arbeitgeber damit signalisierte Gefährlichkeit des Gefangenen führte selbstverständlich zu einer endgültigen Absage des potentiellen Arbeitgebers. Wie soll ein Straftäter eine Chance bekommen, in Zukunft eine Arbeit zu finden und ein gesunder Teil der Gesellschaft zu werden, wenn auf diese Weise mit ihm verfahren wird? Aus dem Vollzug der gerichtlichen Strafe mit dem Ziel der sinnvollen Vorbereitung seiner Reintegration in unsere Gesellschaft, wie es das Bundesverfassungsgericht bereits 1973 festgelegt hat, sei ein Verwahrvollzug, eine Strafhaft geworden, fasste Herr Mett die Missstände in Hamburgs Kriminalpolitik zusammen.

Bürger wird vom Staat zum Objekt degradiert

Senator Lüdemann hat die oben geschilderte Vollzugsrealität in dem vorliegenden Gesetzesentwurf festgeschrieben. Nicht nur verfassungsrechtlich sondern auch völkerrechtlich höchst bedenklich ist darin die Verknüpfung des Strafvollzugsgesetzes mit dem vom Bundesverfassungsgericht geforderten eigenständigen Jugendstrafvollzugsgesetz. Der Entwurf räumt den jungen Gefangenen keinen Rechtsanspruch auf Förderung ein, sondern sagt im § 4 lapidar, dass der Vollzug erzieherisch zu gestalten sei. Ihre Förderung wird von deren Mitwirkungsbereitschaft abhängig gemacht. Dabei wird verkannt, dass sich Jugendliche noch in einem Alter befinden, in dem nicht nur sie selbst, sondern auch andere, die Erziehungsberechtigten und notfalls auch der Staat, für ihre Entwicklung verantwortlich sind. Geradezu zynisch liest sich die Begründung zu § 83 des Entwurfs, mit dem das Tragen und der Gebrauch von Schusswaffen auch im Jugendstrafvollzug zugelassen wird. Dort ist zu lesen: „Für die Bediensteten wird es im Ernstfall aber oftmals nahezu unmöglich sein, festzustellen, ob es sich etwa bei dem Fliehenden um einen Jugendlichen oder um einen Heranwachsenden handelt. Daneben erlaubt § 83 einen Einsatz von Schusswaffen nur in engen Grenzen und nur mit dem Ziel, die Betroffenen angriffs- oder fluchtunfähig zu machen. […] Die im Vollzug der Jugendstrafe untergebrachte Klientel kann schließlich bei der Einschätzung ihrer kriminellen Energie und Gefährlichkeit nicht grundsätzlich anders bewertet werden als diejenigen im Vollzug der Freiheitsstrafe.“ Aus diesem Entwurf der Justizbehörde ist ein typisches Verwaltungsgesetz geworden, in dem der Staat dem Bürger in seiner uneingeschränkter Machtfülle gegenüber tritt und zum Objekt degradiert, dem nur dann eine „Vergünstigung“ einer Behandlung oder Förderung zuteil wird, wenn er sich der Institution unterwirft und Mitwirkungsbereitschaft zeigt. Für Gefangene, die nicht mitwirken, muss kein besonderer personeller Aufwand getrieben werden. Auch wird dem Gebot des Bundesverfassungsgerichtes nicht entsprochen, den Strafvollzug am Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu orientieren. Herr Mett bezeichnete den Entwurf als „ärmlich und erbärmlich“ und als Rückschritt in die Zeit vor 1977, wo das bundeseinheitliche Strafvollzugsgesetz in Kraft trat. Dieses Gesetz gilt es deshalb dringend zu verhindern. Die Humanistische Union zählt dabei auf volle Unterstützung ihrer Mitglieder in Hamburg. Dazu sind Checklisten zu erstellen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um einem Entlassenen den Übergang aus dem Strafvollzug in die Freiheit zu erleichtern.

Abschließend gab Herr Mett einen inspirierenden Ausblick auf die Praxis des Justizvollzuges in Schleswig-Holstein. Eine vom dortigen Justizminister Döring einberufene Kommission hat sich speziell mit den Fragen der Bildungsmöglichkeiten, Formen der Unterbringung und Betreuung, ausreichender pädagogischer und therapeutischer Betreuung sowie einer mit angemessenen Hilfen für die Phase nach der Entlassung verzahnten Entlassungsvorbereitung befasst. Um den Gefangenen soziales Lernen zu vermitteln, werden Wohngemeinschaften von 8-10 Gefangenen gebildet, die mit Waschmaschinen und Kühlschränken ausgestattet werden, um die Gefangenen zur Selbstversorgung zu ermutigen. In der Kommission arbeitete der Vorsitzende des Unternehmensverbandes Mittelholstein mit und sicherte zu, dass die Mitgliedsfirmen seines Verbandes bereit seien, Patenschaften für einen derart vorbereiteten Gefangenen zu übernehmen. Als konstruktiven Vorschlag schlug Herr Mett die Ernennung eines Entlassungsmanagers in jeder Anstalt vor, der sich mit den komplexen Rechten und bürokratischen Zuständigkeiten der Gefangenen auskennt und die Vernetzung zwischen den einzelnen Institutionen herstellt, um die Entlassung rundum sozial abzusichern und als Ansprechpartner zu fungieren.

Ob diese viel versprechende Vision von Dietrich Mett in Hamburg verwirklicht werden kann, hängt von dem politischen Mehrheiten in der Bürgerschaft ab, und damit letztlich auch vom Einsatz der Humanistischen Union.

Gabriel Hartmann

Kategorie: Hamburg: Veranstaltungsberichte

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